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14. März - Karl Marx
„An allem ist zu zweifeln“
Dieses Lieblingsmotto von Karl Marx (5.5.1818 - 14.3.1883) wird dem französischen Gelehrten René Descartes (1596 - 1650) zugeschrieben und drückt gesunde Skepsis aus, mit der man Anschauungen, auch scheinbar unumstößlichen, gegenübertreten sollte.
Als Wissenschaftler folgten Marx und sein Mitstreiter Friedrich Engels diesem Grundsatz. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Naturwissenschaften bereits beachtliche Erfolge erzielt, unter Anwendung strenger wissenschaftlicher Methoden. Marx und Engels ließen sich offenbar davon bei ihrem Blick auf die Gesellschaft inspirieren, nutzten eigene Analysen und gingen von vorhandenen Erkenntnissen aus, namentlich aus der englischen Ökonomie, der deutschen Philosophie und dem französischen Sozialismus. Ihre Erkenntnisse in diesen Bereichen ergeben ein Gedankengebäude, das später als Marxismus bezeichnet wurde.
Es ist hier nicht der Platz, um die interessanten Lebensstationen von Karl Marx und sein ungewöhnliches privates Umfeld ausführlicher zu würdigen. Hervorzuheben sind seine Frau Jenny von Westphalen (1814 - 1881), die ihm fest zur Seite stand, sowie sein lebenslanger Freund Friedrich Engels (1820 - 1895), engster Gefährte, der die Familie Marx jahrzehntelang finanziell unterstützte, ja buchstäblich vor den Hungertod bewahrte.
Zurück zu Marx und Engels als Wissenschaftler. Unter diesem Blickwinkel sollte man ihr Wirken und ihre Erkenntnisse im Umfeld ihrer Zeit, Mitte des 19. Jahrhunderts, bewerten, wie es bei Naturwissenschaftlern wie z.B. Kopernikus oder Newton selbstverständlich ist. Marx und Engels, sie waren nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Politiker, wurden und werden teils noch heute, einfach in die Zeit hundert oder hundertfünfzig nach vorn geschoben. Das führte auch zum Dogma und nahm teils religiöse Züge an.
Ich möchte kurz auf einige Aspekten des Erbes von Marx eingehen.
1) Sozialismus/Kommunismus/Humanismus/Emanzipation: Zwei Zitate charakterisieren sehr gut den Kern von Marxens Humanismus.
Im Kommunistischen Manifest von 1848 findet sich die Vision: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist.“ Der Nebensatz ist nicht äquivalent zu einer Umkehrung der Art „worin die freie Entwicklung aller die freie Entwicklung eines jeden ist.“, wonach defacto im sowjetischen Gesellschaftstyp verfahren wurde. Das Manifest war in der DDR und der Sowjetunion frei zugänglich, war Gegenstand in vielen Seminaren, jedoch dieser tiefe Sinn wurde kaum erörtert.
Es sei weiter auf das Marxsche Konzept der Emanzipation verwiesen, nämlich auf seinen „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, 1843/44, http://mlwerke.de/me/me01/me01_378.htm)
2) Materialistische Geschichtsauffassung: In ihren Grundzügen wurde diese schon in den vorgenannten Quellen entwickelt. In seinem Brief an Joseph Weydemeyer (1819 - 1866) vom 5.3.1852 weist Marx auf das hin, was er neu tat, nämlich nachzuweisen, „dass (1) die Existenz der Klassen an bestimmte Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist, dass (2) der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt, und, dass (3) diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassenund zu einer klassenlosen Gesellschaftbildet.“
Die letzten beiden Aussagen werfen heute Frage auf, abgesehen davon, dass in der Mitte des 19. Jahrhundert unter Diktatur schlicht Herrschaft verstanden wurde, und dass natürlich die sich Marx darstellende gesellschaftliche Situation eine wesentlich andere als heute war.
a) Das Wort notwendig kann eine Notwendigkeit wie bei Ereignissen in der Natur suggerieren, wie z.B. beim Gravitationsgesetz. Gegen diese mechanische Interpretation sprechen das (auch im Manifest entwickelte) Konzept der Historischen Mission der Arbeiterklasse wie auch späte diesbezügliche Äußerungen von Engels. Bei vielen Sozialdemokraten überwog die erste Interpretation, z.B. bei Bernstein stark, bei Bebel in Anklängen. Luxemburg und Lenin hingegen sahen die Notwendigkeit des subjektiven Faktors in Gestalt der von einer revolutionären Partei geführten Arbeiterklasse oder ihrer Avantgarde, die sich gezielt auf die Revolution vorbereiten sollte (s. die entsprechenden Kalenderblätter). Heute wird ein strenger Geschichtsdeterminismus allgemein abgelehnt, auch von Marxisten, und es gibt Diskussionen darüber, was heute das revolutionäre Subjekt sei. Eine weitere nicht triviale Frage ist, wie gesellschaftliche Gesetze im Unterschied zu solchen in der Natur wirken. Ich komme darauf im Kalenderblatt zu Marxens Geburtstag am 5.5. zurück, wenn es stärker um Ökonomie geht.
b) Die dritte Aussage selbst sagt nichts darüber, wie und in welchem Zeitraum die Herrschaft des Proletariats zur klassenlosen Gesellschaft führen kann. An anderer Stelle trifft Marx hierzu Aussagen, ohne sich zu sehr festzulegen, was sicher gut verständlich ist.
Bisher sind an der praktischen Umsetzung, auch, wenn es über einen schon anfangs fehlgeschlagenen Versuch hinausging, alle Revolutionäre gescheitert, so auch Lenin und die Bolschewiki, Mao u.a. Die chinesische KP kehrte ab 1978 im Wesentlichen zum Kapitalismus zurück, was hier nicht weiter erörtert werden kann, und konnte so ihre Herrschaft bewahren.
Im Zusammenhang mit dem Scheitern des von Lenin begründeten und von Stalin hart durchgesetzten sowjetischen Gesellschaftsmodells vor 35 Jahren gab und gib es bis heute viele Diskussionen und Erklärungsversuche. Ein interessanter Hinweis findet sich bei Hendrik Wallat Staat oder Revolution (1912, S. 13), der auch den Bogen zu Marx‘ Gedanken der Emanzipation spannt (s. oben). Es ist ein schier unauflöslicher Widerspruch, dass Emanzipation gegen Herrschaft erkämpft werden muss, mit Mitteln der Herrschaft, ohne dass diese sich verselbständigen, ohne, dass Herrschaft reproduziert wird.
3) Politische Ökonomie: Der Kern der Marxschen ökonomischen Theorie, die Arbeitswerttheorie mit den Kategorien Ware, Wert, Mehrprodukt, Geld, Arbeitskraft, Kapital, Profit usw., der das Wesen der kapitalistischen Produktion und Reproduktion beschreibt, kann hier auch nicht ansatzweise dargelegt werden. Marx hat das insbesondere in seinem Hauptwerk Das Kapital sehr gründlich ausgearbeitet. Das wird im Kalenderblatt zu seinem Geburtstag angesprochen.
Es seien hier zwei Aussagen zitiert, die Marx im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859) getan hat (http://www.mlwerke.de/me/me13/me13_007.htm, 4. Absatz).
„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen, …, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“
„Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“
Marx gewann diese Erkenntnisse aus dem Studium der Geschichte und durch Verallgemeinerung. Die erste Aussage beschreibt Abfolge und Wechsel der Gesellschaftsformationen, die zweite formuliert eine Bedingung für einen Wechsel. Daraus folgt ein Hinweis, dass eine wichtige materielle Voraussetzung für eine sozialistische Revolution nicht herangereift war, nicht 1917 in Russland, nicht 1945 in Ostdeutschland, auch nicht 1989 in Osteuropa. Denn es gelang dem „Realsozialismus“ nicht, wirklich neuartige Produktivkräfte zu entwickeln, die über diejenigen des Kapitalismus hinausgingen. Im Gegenteil, bei der entscheidenden Computertechnik beispielsweise klaffte ein zu großer Rückstand.
Marx und Engels hinterließen ein umfangreiches Erbe auf verschiedenen Gebieten, das weiterhin beachtet werden sollte. Es ist jedoch keine in sich geschlossene Theorie, wie verschiedentlich suggeriert. Es gibt Leerstellen, z.B. bezüglich einer Theorie des Staates, zu der Marx nicht mehr kam, und es gibt Widersprüche zwischen einzelnen Aussagen, die zu verschiedenen Zeiten getroffen wurden.
(Michael Wolff, März 2025)