Aktuelles aus dem Bezirk

2. März - Michail Gorbatschow

„Das Leben verlangt mutige Entscheidungen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“

Vielen kennen meist nur den zweiten Satz. Laut seinen Memoiren sprach Michail Gorbatschow am 7. Oktober 1989 diese Worte zu Erich Honecker. Am Tag davor sagte Gorbatschow vor der Neuen Wache unter den Linden: „Я думаю, опасности только подстерегают тех, кто не реагирует на жизнь.“, was mit „Ich glaube, Gefahren lauern nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ übersetzt wurde. Gorbatschow wollte Honecker überzeugen, nicht länger mit nötigen Reformen zu warten, um nicht den Zusammenbruch des Systems zu riskieren.

Die Biographie des jungen Michail Sergejewitsch Gorbatschow (2.3.1931 – 30.8.2022) ist eine typisch sowjetische. Sein Vater war Russe, seine Mutter Ukrainerin, beide waren Bauern und arbeiteten in einem Kolchos in der heutigen Region Stawropol (Nordkaukasus, heute Russische Föderation).

Ein Großvater war Leiter dieses Kolchos‘, er wurde 1937 wegen Trotzkismus-Verdachts verhaftet, gefoltert und zum Tode durch Erschießen verurteilt, jedoch nach 14 Monaten aus der Haft entlassen. Gorbatschow wuchs in dieser ländlichen Gegend auf, trat dem Komsomol bei und erhielt im Alter von 19 Jahren für gute Arbeit im Kolchos den Rotbannerorden der Arbeit.

(Kolchos, ru. колхоз, Abkürzungswort aus коллективное хозяйство [Kollektivwirtschaft], Komsomol, ru. Комсомол, Abkürzungswort aus Коммунистический союз молодёжи [Kommunistischer Jugendverband])

Michail Gorbatschow wurde 1950 Kandidat, 1952 Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), schloss 1955 in Moskau sein Jurastudium ab und kehrte zurück in seine Heimatregion Stawropol. Dort arbeitete er für die Partei und machte 1966 einen Abschluss als Agrarbetriebswirt.

Er setzte seine Parteikarriere in verschiedenen Funktionen fort, war ab 1971 Mitglied des Zentralkomitees und ab 1980 Vollmitglied des Politbüros, des obersten Zirkels der Macht. Das war natürlich nicht mehr typisch für Sowjetbürger. Er lernte den ebenfalls aus Stawropol stammenden Juri Andropow kennen, früherer KGB-Chef und nach Breschnews Tod 1982 für etwa ein Jahr Generalsekretär des ZK der KPdSU, was defacto das einflussreichste Amt in der Sowjetunion war. Andropow und Gorbatschow hatten offenbar ähnliche Gedanken in Richtung ernsthafter Reformen, um einen Zusammenbruch des schon viele Jahre stagnierenden Systems abzuwenden. Allerdings konnte Andropow wegen seiner schweren Krankheit kaum etwas bewegen. Sein Nachfolger als Generalsekretär wurde Konstantin Tschernenko, eher konservativ, ebenfalls schwerkrank und nur dreizehn Monate im Amt.

Am 11. März 1985 wurde Michail Gorbatschow mit 54 Jahren zweitjüngster Generalsekretär in der Geschichte der KPdSU. Von da an war Gorbatschow defacto, später auch nominell als Präsident, höchster Führer der Sowjetunion und bestimmte maßgeblich den Kurs des Landes.

Von nun an konnte er mit tiefgreifenden Reformen auf vielen Gebieten beginnen, wie es ihm vorschwebte. Ziel war, eine erneuerte Sowjetunion zu schaffen, mit effektiver Wirtschaft, besserer Versorgung der Bevölkerung, mit mehr Demokratie und unter Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger aller Nationalitäten.

Nach der Ablösung von Chruschtschow, der als erster Stalin einen Verbrecher nannte, durch Breschnew als Generalsekretär im Jahre 1964 hatte eine gesellschaftliche Stagnation eingesetzt, die nun überwunden werden sollte, ohne vom Ziel des Sozialismus/­Kommunismus abzurücken. Gorbatschow berief sich ausdrücklich auf Lenin und seine letzten Arbeiten zum Aufbau des Sozialismus. Die diesen Prozess der Umgestaltung kennzeichnenden, bald auch international bekannten Schlagworte waren „Perestroika“ (перестройка – Umgestaltung, Umbau, Rekonstruktion) und „Glasnost“ (гласность – Offenheit, Öffentlichkeit, Transparenz).

Damit begann eine Entwicklung mit letztlich gravierenden Folgen, für die Sowjetunion selbst, aber vor allem international, worauf hier in Ausführlichkeit nicht eingegangen werden kann, und die Michail Gorbatschow so selbst wohl nicht erwartet hatte. Über all das wurden viele Bücher und Artikel geschrieben, und bis heute wird hierzu kontrovers diskutiert.

Zuerst gab es große Begeisterung in der sowjetischen Gesellschaft, es wuchsen aber auch Verunsicherung und Skepsis, in der Führungsschicht wurde ein Machtverlust befürchtet, zumal sich die allgemeine Versorgungslage im Land nicht verbesserte. Das politische Klima verbesserte sich deutlich, Gorbatschow sprach offen über Fehler der KPdSU seit der Stalin-Zeit und über Verbrechen, die im Namen des Sozialismus in großer Zahl begangen wurden.

Er leitete auch eine Wende in den internationalen Beziehungen ein. Am 24.12.1989 wurde offiziell das geheime Zusatzprotokoll zum 1939 zwischen Deutschland und der Sowjetunion geschlossenen Nichtangriffsvertrag (auch als Hitler-Stalin-Pakt bekannt) für null und nichtig erklärt. Dieses lange hartnäckig verleugnete Protokoll regelte die Aufteilung Osteuropas zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion und führte zur sowjetischen Annexion großer Territorien, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg im sowjetischen Besitz verblieben.

Gorbatschow unterbreitete weitreichende Abrüstungsvorschläge und erreichte entsprechende Verträge mit den USA. Der Kalte Krieg, also die verfestigte politische und militärische Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den USA mit ihren jeweiligen Verbündeten, wurde beendet.

Gegenüber den Verbündeten im Warschauer Vertrag hob Gorbatschow die sogenannte Breschnew-Doktrin auf, von nun an konnten sie eigene Wege gehen, ohne dass, wie z.B. 1968 in der Tschechoslowakei, militärisch interveniert würde.

Die Politik der Perestroika beeinflusste auch die Entwicklung in der DDR. Hoffnungen auf positive Veränderungen und mehr Offenheit wurden genährt und zunehmend eingefordert. Die Führung unter Honecker fürchtete einen Machtverlust und bremste, man gehe eigene Wege und manches sei schon getan, was die sowjetischen Genossen anstrebten, unter Verweis auf die in vielen Bereichen bessere ökonomische und Versorgungslage in der DDR. Die komplizierten Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion können hier nicht angesprochen werden.

Die Perestroika scheiterte, der Umbau zu einer modernen sozialistischen Gesellschaft geriet zum Abbruch des nach der Oktoberrevolution geschaffenen nicht-kapitalistischen Systems. Zu unzureichend waren die Voraussetzungen, zu groß die Defizite, zu schwerwiegend die nachwirkenden Verheerungen der Stalin-Zeit, auch zu wenig durchdacht mancher Schritt von Gorbatschow selbst, wie etwa die rigorose Antialkoholkampagne.

Die europäischen Staaten des „Realsozialismus“, besser des Spätstalinismus, brachen kurz nacheinander in sich selbst zusammen und kehrten zum Kapitalismus zurück, schließlich ereilte dieses Schicksal auch die Sowjetunion. Die Perestroika hatte den Niedergang beschleunigt, war aber nicht ursächlich für den gesellschaftlichen Zusammenbruch. Dieser war nicht zufällig, aber auch nicht gesetzmäßig, obwohl wahrscheinlich. Wir lernten aus Erfahrung, dass geschichtliche Entwicklungen offen sind.

Für Michail Gorbatschow war das Scheitern der Perestroika und der Untergang der Sowjetunion auch eine persönliche Niederlage, vertieft durch die öffentliche Demütigung und defacto-Absetzung durch Boris Jelzin nach dem gescheiterten Putschversuch im August 1991. Heute wird er in Russland von vielen als Verräter gesehen, der die Sowjetunion zerstört hätte.

Gorbatschow teilte die Tragik vieler Reformer, die es zu allen Zeiten gab. Ihre Sozialisierung fand innerhalb des stalinistischen Systems statt, sie gelangten auf dem üblichen Karriereweg nach oben, im Falle Gorbatschows ganz nach oben, sie erkannten den dringenden Reformbedarf des Systems. Letztlich scheiterten sie alle. Teils wurden sie bald abgelöst und kaltgestellt, wie Chruschtschow, oder sie wurden erschossen, wie führende Bolschewiki der ersten Stunde während des Großen Terrors 1937/38. Aber auch ihr Wirken bereitete den Boden für die Überwindung des politischen Systems von innen, was glücklicherweise auf friedlichem Wege geschah.

(Michael Wolff, März 2025)