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22. April - Joachim Hirsch

„Die Trennung von ‚Politik‘ und ‚Ökonomie‘ ist eine entscheidende Voraussetzung

für die Möglichkeit liberal-demokratischer Verhältnisse.“

Dieses für die Überschrift sinnwahrend gekürzte Zitat von Joachim Hirsch ist seinem Buch Materialistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems (2005, S. 19) entnommen. Dieses sehr empfehlenswerte Werk findet sich zugangsfrei unter:

www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Hirsch_Materialistische_Staatstheorie.pdf

Joachim Hirsch wurde am 22. April 1938 in Schwenningen am Neckar geboren. Von 1957 bis 1961 studierte er Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Joachim Hirsch wurde 1965 in Politikwissenschaft mit einer Arbeit über Die Öffentlichen Funktionen der Gewerkschaften promoviert. Von 1972 bis 2003 war er Professor für Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt am Main.

In seinen Forschungen beschäftigte sich Joachim Hirsch intensiv mit der Staatstheorie und war maßgeblich an der Debatte über die ‚Staatsableitung‘ beteiligt, die in den siebziger Jahren in der Bundesrepublik intensiv geführt wurde. Ergebnisse dieser Forschungen sind im bereits oben zitierten Werk Materialistische Staatstheorie dargelegt. Diese Untersuchungen zur Theorie des modernen bürgerlichen Staates waren keinesfalls rein akademisch, sondern loteten auch die Grenzen gesellschaftlicher Veränderungen durch staatliche Reformpolitik aus. In diesen Jahren regierten sozialdemokratisch-liberale Koalitionen unter den Bundes­kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt (beide SPD), begleitet von unterschiedlichen Erwartungen und Diskussionen.

Hirsch kritisierte die seines Erachtens in der Sozialdemokratie ebenso wie im Leninismus wurzelnde Vorstellung, „dass mittels staatlicher Reformpolitik eine emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft herbeigeführt werden könne.“

Hier kann gefragt werden, was eigentlich an einer Staatstheorie zu dieser Zeit so Besonderes gewesen sein sollte. Die älteren, in der DDR oder der Sowjetunion aufgewachsenen Menschen erinnern sich: Die Ideen von Marx, Engels und Lenin, zusammengefasst als ‚Marxismus-Leninismus‘ (von Stalin, was zu späterer Zeit ausgeblendet wurde), galten als weitgehend geschlossene Theorie, die auf fast alles eine Antwort wüsste. Lücken, die noch bei Marx und Engels bestanden haben könnten, schloss Lenin als genialer Fortsetzer der beiden ‚Begründer‘. Und so war es auch mit der Sicht auf den Staat, Lenin hätte alles Wesentliche gesagt. Der Staat im Kapitalismus wurde als Machtinstrument der herrschenden Klasse gesehen, im Wesentlichen nur zur Unterdrückung der ausgebeuteten Klassen. Eine innere Differenzierung wurde kaum untersucht, spielte zumindest in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle.

Marx und Engels hinterließen keine Staatstheorie, wohl aber viele wichtige Aussagen zu Staat und Gesellschaft, die nicht immer ganz konsistent waren. Davon ausgehend, kamen spätere Marxisten wie Lenin, Kautsky, Bernstein und Luxemburg zu recht unterschiedlichen Vorstellungen über Staat, Gesellschaft und Aufgaben der Arbeiterbewegung. Ausführliche Abhandlungen dazu mit Verweisen auf die entsprechenden Quellen finden sich in Einleitung und Teil I des Buches Der Staat der Bürgerlichen Gesellschaft. Zum Staatsverständnis von Karl Marx (2015, 2. Aufl., herausgegeben von Hirsch, Kannankulam, Wissel).

Für Marx waren Staat und bürgerliche Gesellschaft getrennte Dinge, wenngleich der Staat sich durch diese Gesellschaft begründet und ihre ‚politische Form‘ ist. Der Staat sichert die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft politisch und juristisch und scheint dabei neutral über der Gesellschaft zu stehen.

Antonio Gramsci (1881 - 1937) sah den Staat nicht allein und vorrangig als Unterdrückungsapparat, sondern als komplexe und widersprüchliche Herrschaftsform, die die Funktionen der Zivilgesellschaft einschließt und dennoch an die sozialökonomischen Voraussetzungen der Klassengesellschaft gebunden bleibt, durch Zwang und Konsens herrscht (s. Kalenderblatt zu Gramsci vom 22.1.). Damit ging Gramsci weit über Lenin hinaus, der den Staat im Wesentlichen auf die bewaffnete Macht zur Unterdrückung reduzierte.

Joachim Hirsch knüpft an die staatstheoretischen Überlegungen von Marx und Engels sowie von späteren marxistischen Denkern wie Gramsci, Althusser (1918 - 1990) und Poulantzas (1936 - 1979) an.

Hirsch weist darauf hin, dass sich der Begriff ‚Staat‘ nicht von selbst erschließt, sondern nur im Rahmen weitergehender gesellschaftstheoretischer Überlegungen genauer bestimmt werden kann. Unter ‚Materialistische Staatstheorie‘ versteht er, dass sich ihre Ansätze auf den von Marx entwickelten historischen Materialismus und dessen Kritik der politischen Ökonomie beziehen. (Materialistische Staatstheorie, S. 15).

„Wie ‚Ware‘ oder ‚Geld ist auch der Staat nicht einfach ein Ding, Subjekt oder eine zweckrationale Organisation, sondern ein komplexes soziales Verhältnis. Dieses wird von den handelnden Menschen hergestellt und reproduziert, aber unter Bedingungen, die sich ihrem unmittelbaren Bewusstsein und ihrer Kontrolle entziehen.“ (ebd., S. 15).

Nach Hirsch wird der Staat im Kapitalismus als ‚moderner Staat‘ von früheren Formen politischer Herrschaft unterschieden, da er das Monopol auf Gewaltanwendung gegenüber allen Klassen hat. In der Sklavenhalter- und Feudalgesellschaft waren politische und ökonomische Herrschaft oft nicht getrennt, sprachen z.B. Feudalherren Recht.

Wie Joachim Hirsch ausführt, ist der kapitalistische Staat, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber allen Klassen, bedingt durch die Besonderheiten der kapitalistischen Produktionsweise mit Lohnarbeit, Privatproduktion, Warentausch und Konkurrenz.

„Ungehinderter Warentausch auf dem Markt, Konkurrenz und die formelle Freiheit der Lohnabhängigen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sind aber nur gewährleistet, wenn die ökonomisch herrschende Klasse auf die unmittelbare Anwendung direkter Gewaltmittel sowohl gegenüber den Lohnabhängigen als auch innerhalb ihrer selbst verzichten muss, wenn also Konkurrenzkämpfe nicht mit Waffen ausgetragen und Arbeitskräfte nicht zwangsrekrutiert werden. Nur unter diesen Voraussetzungen kann die kapitalistische Gesellschaft Bestand gewinnen und sich entwickeln.“ (ebd., S. 23). Die materialistische Staatstheorie überwindet das einfache Basis-Überbau-Schema früheren marxistischen Verständnisses. Staat und Gesellschaft, Politik und Ökonomie sind getrennt, gleichzeitig aber auch verbunden (ebd., S. 25).

Der Staat der bestehenden Gesellschaft ist also aus strukturellen Gründen ‚kapitalistisch‘, und nicht allein deshalb, weil er direkten Einflüssen des Kapitals unterworfen ist. … Es ist daher unmöglich, das kapitalistische Produktionsverhältnis mittels des Staates im Kern zu verändern (ebd., S. 26). Als bloße ‚Marktwirtschaft‘ ist der Kapitalismus nicht existenzfähig (ebd., S. 28).

Rechtssubjektivität, staatsbürgerliche Freiheit und Gleichheit sind daher keinesfalls nur ein ideologischer Schein, sondern haben in der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise eine materielle Basis. Gleichzeitig bleiben die Momente von Freiheit und Gleichheit in die strukturellen sozialen Ungleichheits- und Klassenverhältnisse eingebettet und finden in diesen ihre Schranken (ebd., S. 29)

Auch in seiner parlamentarisch-demokratischen Form ist somit der Staat ‚Klassenstaat‘. Aber er ist nicht – oder nur in Ausnahmefällen – das simple ‚Instrument‘ einer Klasse oder Klassenfraktion (S. 30).

Joachim Hirsch geht auch ausführlich auf die komplexen und widersprüchlichen Wechselwirkungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft (nach Gramsci ‚erweiterter Staat‘) ein, was hier nicht dargestellt werden kann.

Wichtig scheint mir, zu bemerken, dass politische Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Religionsgemeinschaften in Struktur und Handeln in großen Teilen objektiv bedingt der Logik des Staates unterliegen, umso mehr, je größer sie sind. Das gilt dann auch für linke Parteien. Nur religiöse oder politische Sekten können sich dem im hohen Maße entziehen.  

(Michael Wolff, April 2025)