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22. Januar - Antonio Gramsci

„Sie war die Revolution gegen das Kapital von Karl Marx.“

Antonio Gramsci wurde am 22.1.1881 in Arles auf Sardinien in einer kleinbürgerlichen Familie geboren, die albanische Vorfahren hatte. Er starb am 27.4.1937 in Rom. Er war Schriftsteller, Journalist, Politiker und marxistischer Philosoph, Mitbegründer und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens.

Antonio Gramsci hatte schon seit der Kindheit mit angeschlagener Gesundheit und daraus resultierender Behinderung zu kämpfen, was ihn zu einem Einzelgänger werden ließ. Er war ein aufgeweckter Schüler mit guten Leistungen, engagierte sich früh in der sozialistischen Bewegung, nahm 1911 ein Studium in Turin auf, was er wegen Armut und Krankheit 1915 aufgeben musste.

1913 wurde er Mitglied der Italienischen Sozialistischen Partei (PSI), deren populärster Führer damals der spätere faschistische Diktator Benito Mussolini war. Wie in vielen sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien Westeuropas gab es in der Zeit des Ersten Weltkrieges und danach heftige Auseinandersetzungen um den zukünftigen Kurs, bis hin zu Abspaltungen. Italien war anfangs neutral, trat jedoch am 23.5.1915 in den Krieg gegen Österreich-Ungarn ein.

Gramsci begrüßte die Oktoberrevolution im November 1917 in Russland und veröffentlichte aus diesem Anlass eine italienweite Ausgabe der sozialistischen Zeitung Avanti! unter dem Titel La rivoluzione contro il Capitale (Die Revolution gegen das Kapital). www.marxists.org/deutsch/archiv/gramsci/1917/11/antikap.htm

Er schrieb:

„Die Revolution der Bolschewiki ist mehr von der Ideologie als von den Tatsachen hervorgebracht worden. … Sie war die Revolution gegen das Kapital von Karl Marx.“

Damit meinte Gramsci, dass die Bolschewiki eine proletarische Revolution durchführten, bevor die ökonomischen Voraussetzungen der Theorie nach dafür gegeben waren, also, ohne dass der Kapitalismus voll entwickelt war. Gramsci sah das als schöpferischen Anwendung der Marxschen Gedanken, die für ihn kein Dogma waren.

Gramsci verehrte Lenin, der den mechanischen Determinismus der Zweiten Internationale überwunden habe, sah jedoch in der Dogmatisierung des Marxismus-Leninismus durch Stalin einen Rückfall in das Denken der Zweiten Internationale.

Gramsci gehörte zu den Begründern der Kommunistischen Partei Italiens, deren Generalsekretär er von 1924 bis 1927 war. Unter Missachtung seiner parlamentarischen Immunität wurde er 1926 verhaftet. Diese Haft ruinierte seine schon angeschlagene Gesundheit weiter, als „Privileg“ erhielt er eine Einzelzelle und durfte schreiben. So entstanden seine Gefängnishefte. 1934 wurde Gramsci unter Auflagen aus dem Gefängnis entlassen, durfte erst 1935 eine Klinik aufsuchen, in der er am 27.4.1937 verstarb, nachdem er am 21.4.1937 seine volle Freiheit zurückerhalten hatte.

Meiner Einschätzung nach ist Antonio Gramsci einer der ersten modernen Marxisten, die den Bogen der Traditionsmarxisten wie Lenin, Luxemburg, Kautsky, Bebel und Bernstein verlassen konnten. Entweder gingen diese von einer unmittelbar bevorstehenden proletarischen Revolution oder von einer Art naturgesetzlichen Hinüberwachsens in den Sozialismus aus.

(Rosa Luxemburg konnte wegen ihrer Ermordung ihre Ansätze nicht weiter verfolgen. Es scheint möglich, dass sie ähnliche Ansichten wie Gramsci entwickelt hätte.)

Gramsci analysierte die Entwicklungen in den kapitalistischen Ländern Westeuropas und in den USA und leistete auf dieser Grundlage wichtige richtungsweisende Beiträge zur Weiterentwicklung der Gedanken von Marx und Engels, die in den Gefängnisheften festgehalten wurden, teilweise mit Code-Wörtern wegen der Zensur.

So führte Gramsci wichtige Überlegungen zu Staat, Gesellschaft und vielen anderen Bereichen aus, die hier natürlich nicht alle hinreichend gewürdigt werden können.

Der Staat ist für Gramsci nicht allein und vorrangig Repressions- und Zwangsapparat, sondern komplexe und widersprüchliche Herrschaftsform, die die (konsensbildenden und integrierenden Funktionen) der Zivilgesellschaft (s. weiter unten) einschließt. Dennoch bleibt der Staat an die sozialökonomischen Voraussetzungen der Klassengesellschaft gebunden, er herrscht durch Zwang und Konsens. Das geht wesentlich über Lenin hinaus und greift Äußerungen von Merx und Engels auf. (Allerdings hinterließen diese keine vollständige Staatstheorie, und es finden sich auch widersprüchliche Aussagen an verschiedenen Stellen, die dann unterschiedliche Interpretationen zuließen.)

Kurz: Die Besitzer der Produktionsmittel, also die Bourgeoisie oder die Kapitalisten, üben kraft dieses Besitzes die ökonomische Macht in der Gesellschaft aus, da ein großer Teil dieser keine Produktionsmittel besitzt und nur seine Arbeitskraft als einzige Ware ihnen verkaufen kann. Der moderne Staat im Kapitalismus übt die politische Macht aus, im Idealfall muss er nur dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden, insbesondere den Schutz des Eigentums garantieren, was größtenteils ohne besonderen Zwang geschieht. Die Bourgeoisie oder gar der einzelne Kapitalist haben keinen direkten Zugriff auf den Staat. Soweit schon Marx und Engels. Allerdings lässt sich Profit auch unter eingeschränkter Demokratie realisieren, so dass autoritäre Herrschaftsformen wie Bonapartismus oder Faschismus möglich sind, was Gramsci leider selbst erleben musste, und wozu er sich ebenso detailliert äußerte.

Neu bei Gramsci sind die Konzepte von Hegemonie und Zivilgesellschaft.

Bei Gramsci geht Hegemonie weit über bloße Führung, wie z.B. bei Lenin, hinaus und knüpft an Marx an: Die herrschenden Gedanken sind die Gedanken der Herrschenden. Kraft ihrer ökonomischen Macht übt die Bourgeoisie ihre Hegemonie vermittelt aus, über viele Bereiche der Gesellschaft wie Bildung und Kultur, über Kirchen, Parteien und Gewerkschaften, auch größere linke Bewegungen können sich dem nur sehr bedingt entziehen.

Jede Gruppe, die nach der Herrschaft in einer modernen Gesellschaft strebt, muss bereit sein, Abstriche bei ihren ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen zu machen, mit einer Vielzahl von politischen Kräften den Kompromiss zu suchen und mit diesen Allianzen zu bilden. Das ist meines Erachtens auch eine Absage an linkes Sektierertum und somit auch wichtig für heutige demokratisch-sozialistische Bewegungen. Diese müssen für eine Hegemonie ihrer wichtigsten Programmpunkte um gesellschaftliche Mehrheiten ringen, damit wesentliche Forderungen eine Chance auf Durchsetzung haben.

Nach Gramsci ist der Staat mehr als nur die Regierung. Die Gesellschaft als „erweiterter Staat“ lässt sich bedingt in eine politische Gesellschaft (politische und rechtliche Institutionen) und in eine bürgerliche oder Zivilgesellschaft (nicht-staatliche Bereiche und Wirtschaft) unterteilen. Eine strikte Trennung ist dabei nicht möglich.

Gramsci übte auch starken Einfluss auf nachfolgende Marxisten außerhalb der marxistisch-leninistischen Orthodoxie aus, wie Luis Althusser, Nicos Poulantzas, Wolfgang Fritz Haug und Joachim Hirsch. Einigen werden wir in den Kalenderblättern wiederbegegnen.

Zum Schluss noch ein lexikalischer Eintrag aus DDR-Zeiten:

„Gramsci, Antonio, 1891-1937, italien. Arbeiterführer; 1921 Mitbegr., später Generalsekretär der KP, hatte entscheidenden Anteil an der Entwicklung der KP zur Partei neuen Typus; 1926/37 faschist. Haft; Verfasser philosoph. und histor. Schriften.“

Mit dem deutlichen Hinweis auf die Partei neuen Typus bleibt Lenin das Maß aller Dinge. Dass die späteren Erkenntnisse von Gramsci weit über diesen hinausgehen, ja teilweise gegensätzlich sind, fällt unter den Tisch. Ich erinnere mich, wenn mal Gramsci erwähnt wurde, erfolgte meist ein Hinweis auf schwere Erkrankung und Kerkerhaft, weshalb er isoliert von wichtigen Entwicklungen gewesen wäre. Ähnlich wurden ja auch Aussagen von Rosa Luxemburg abgeschwächt bzw. relativiert.

(Michael Wolff, Januar 2025)