Aktuelles aus dem Bezirk

28. Januar - Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin)

„Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung.“

Dieser vielen Älteren bekannte Satz Lenins aus der Schrift „Die große Initiative“ („Великийпочин“) formuliert eine ökonomische Notwendigkeit und hängt dabei die Messlatte sehr hoch. Bekanntlich hat der von Lenin wesentlich geschaffene Gesellschaftstyp zu keiner Zeit auch nur annähernd eine Arbeitsproduktivität wie in den entwickelten kapitalistischen Ländern erreicht. Auf die Gründe dafür kann hier nicht eingegangen werden. Zusammen mit dem Mangel an Demokratie war dieses ökonomische Defizit ursächlich für den Zusammenbruch des „Real­sozialismus“ in den Jahren 1989 – 1991.

Wie imvorigen Kalenderblatt berichtet, wurde Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin) am 22.4.1870 in Simbirsk an der Wolga geboren und starb am 21.1.1924 in Gorki bei Moskau.

Das vorige Kalenderblatt zu Lenin endete mit der Oktoberrevolution am 7.11.1917 und mit wichtigen Beschlüssen des 2. Allrussischen Sowjetkongresses, der Lenin als Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare einsetzte und die Dekrete über den Frieden, über den Boden und über die Rechte der Völker Russlands annahm.

Lenins Ansatz, die Marxschen Gedanken schöpferisch auf Russland anzuwenden, über eine demokratische zu einer sozialistischen Revolution zu gelangen, in einer revolutionären Situation („Die Massen wollen nicht mehr wie bisher, die Herrschenden können nicht mehr wie bisher“) mit einer entschlossen geführten Avantgarde die politische Macht zu ergreifen, hatte augenscheinlich im „schwächsten Glied des Kapitalismus“ zum Erfolg geführt.

Von revolutionären Sozialdemokraten wie Luxemburg und Gramsci gab es viel Anerkennung, bald aber auch Kritik an Defiziten in Sachen Demokratie.

Es zeigte sich schnell, dass die Eroberung der politischen Macht unter Ausnutzung günstiger Umstände eine Sache, die Sicherung derselben und insbesondere der Aufbau einer sozialisti­schen Gesellschaft etwas ganz anderes ist.

Das Sowjetsystem (совет [sowjet] = Rat) orientierte sich an der Pariser Commune, brach mit dem bürgerlichen Parlamentarismus und hob die Teilung zwischen Legislative und Executive auf. Die Abgeordneten hatten ein imperatives Mandat, waren also unmittelbar ihren Wählern verpflichte und konnten jederzeit abberufen werden. „Nur dem Gewissen verpflichtet zu sein“ galt als „bürgerlich“ und wurde strikt abgelehnt.

Abgesehen davon, dass Russland und Paris doch sehr verschieden waren, führten der starke Einfluss der bolschewistischen, nun kommunistischen Partei, die bald die alleinige war, und der strenge Zentralismus dazu, dass die Sowjets ihr basisdemokratisches Potential immer weniger nutzen konnten.

Die geschichtlichen Details sind bekannt bzw. lassen sich nachlesen. Als besonderes Ereignis sei der Kronstädter Aufstand, auch Meuterei genannt, im Februar und März 1921, erwähnt.

Die Matrosen von Kronstadt, einer Festungsinsel der Baltischen Flotte vor dem damals Petrograd heißenden Sankt Petersburg, galten als verlässliche Anhänger der Revolution und waren vielfach selbst Mitglieder der bolschewistischen Partei. Nach dem Sieg der Revolution im Bürgerkrieg und angesichts der sehr schlechten ökonomischen Lage der Bevölkerung unter der Kriegskommunismus genannten diktatorischen Wirtschaftspolitik, forderten sie, zur Basis­demokratie des Sowjetsystems zurückzukehren, diktatorische Tendenzen zurück­zunehmen und die Lage der Bevölkerung, insbesondere der Bauern, zu verbessern.

Die Führung um Lenin und Trotzki, damals Kriegskommissar, ließ dieses Aufbegehren in verlustreichen Kämpfen niederschlagen und viele der Meuternden hinrichten oder deportieren. Damit verlor die Oktoberrevolution endgültig ihren emanzipatorischen Impuls (Wallat). Die Kronstädter Matrosen wurden defacto erste Opfer des Stalinismus, obwohl es diesen damals noch gar nicht gab.

Zur weiteren politischen Entwicklung in der Sowjetunion, 1922 gegründet, und ihres späteren Scheiterns gibt es unzählige Bücher und Artikel sowie widerstreitende Meinungen bis heute.

Die ganze Komplexität kann hier nicht mal im Ansatz erfasst werden, ich muss mich also beschränken.

Bei Hendrik Wallat (S. 23, s.u.) findet sich: Die Ereignisse im post-revolutionären Russland sind „nicht allein den Zwängen und keineswegs frei gewählten Umständen der Revolution zuzuschreiben oder allein auf das Konto der Konterrevolution zu verbuchen. Konsultiert man neben Lenins Parteikonzept zudem noch seine Staats- und Demokratietheorie sowie seinen Gewalt- und Geschichtsbegriff, so wird vielmehr deutlich, dass die spätere Gewaltpolitik konsequenter Ausdruck des bolschewistischen Revolutionsmodells ist - auch wenn Lenin selbstredend weder Urheber der in Revolution und Bürgerkrieg explodierenden Gewalt war, noch dass diese, so wenig wie der spätere stalinistische Staatsterror, idealistisch aus dem Denken des Revolutionärs abgeleitet werden kann.“

Michael Brei schreibt (S. 5, s.u.): „Lenin hat die sozialistischen Linke zu nie gekannter Macht geführt. Um sie zu erobern und zu sichern, konnte er erbarmungslos sein und hat alles dieser einen Aufgabe untergeordnet. Zu spät und völlig vergeblich hat er, gezeichnet schon durch seine tödliche Krankheit, versucht, dem Missbrauch dieser Macht durch Stalin vorzubeugen und Gegenkräfte zu installieren. Seine letzten diktierten Werke, sein Testament, legen Zeugnis ab von seinem Scheitern angesichts der Gewalten unkontrollierter Herrschaft, die er mit seinem Kampf um Übernahme der Macht durch die bolschewistische Partei selbst entfacht hatte.“

M. Brie weist darauf hin (S. 2), dass es eine Grenze zur Inhumanität gibt, „die Linke nicht überschreiten dürfen um ihrer selbst und ihrer Ziele willen.“

Es stellt sich die Frage, inwieweit sich Lenin und die Bolschewiki auf Marx und Engels berufen können? Hendrik Wallat untersucht diese Frage ausführlich (S. 44-59), was hier nur angedeutet werden kann. Sein Fazit ist, dass Lenin sich nur zum kleineren Teil auf Marx und Engels berufen kann, insbesondere auf Äußerungen, die diese unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution von 1848/49 machten. Auch gibt es theoretische Defizite bei Marx und Engels, die Raum für Interpretationen lassen. Es bleibt aber festzuhalten, dass zentrale theoretische Annahmen Lenins sowie die bolschewistische Praxis Marxens politischem Denken wie Handeln wider­sprechen und den Kern seiner kritischen Theorie verfehlen. „Kein Weg führt von Marx‘ kritischer Theorie kapitalistischer Vergesellschaftung in die Arbeits- und Kältehölle der Gulags. Die Grenze verläuft zwischen Marx und Lenin, nicht zwischen Lenin und Stalin.“ (S. 56). Daraus folgt dann die ganze Fragwürdigkeit des „Marxismus-Leninismus“, einer Konstruktion Stalins, die eine nicht vorhandene ungebrochene Kontinuität suggerieren und Lenins Wirken als einzig mögliche Fortsetzung von Marx und Engels darstellen sollte. So wurde es auch offiziell in der DDR gehandhabt, kritische Fragen waren verpönt, der Lenin-Kult wurde in Teilen übernommen. Wie in der Sowjetunion und anderswo diente der „Marxismus-Leninismus“ vor allem dazu, die Herrschaft der Politbürokratie zu legitimieren und zu sichern.

M. Brie schreibt weiter: „Lenins ungeheure Wirkungsmacht ist nicht zu trennen von seinem Versagen, ein politisches System aufzubauen, dass der Freiheit der Einzelnen keine Absage erteilt, dass Lernen ermöglicht und dies nicht dem bloßen Kampf um Macht opfert“ (S.5).

M. Brie rät der Linken, „Lenins Leichnam nicht den Siegern der Geschichte [zu] überlassen – den Stalinisten wie ihren liberalen Gegnern“ (S. 1), sondern sich des Erbes Lenins kritisch anzunehmen, auch, um demokratisch-sozialistische Antworten auf die großen heutigen Herausforderungen zu finden.

- Hendrik Wallat „Staat oder Revolution – Aspekte und Probleme linker Bolschewismuskritik“,

- Michael Brie „Sieben Gründe, Lenin nicht den Feinden zu überlassen“ (Auf der Seite der Rosa-Luxemburg-Stiftung herunterzuladen)

- Gulag, Betonung auf 2. Silbe – Abkürzungswort von ru. Государственное управление лагерей (Staatliche Verwaltung der Lager) steht für die Zwangsarbeitslager in der Sowjetunion.

(Michael Wolff, Januar 2025)